Die Geschichte

Die Schwalben und der Weg zum Meer

Teil 1

Es war einmal und das ist gar nicht so lange her, wie du vielleicht denkst, eine Zirkusartistin.
Die ritt auf dem Rücken eines weißen Pferdes durch die Manege. Die wandernde Welt aus bunten Lichtern, glitzernden Kleidern und gespannten Erwartungen war ihr Zuhause. Nacht für Nacht, unter dem großen Zelthimmel, ritt sie in perfekten Kreisen, Spiralen und Bögen. Im heißen Licht der Scheinwerfer balancierte sie elegant auf dem Sattel, des mit großen Federn geschmückten Pferdes. Das Publikum vergaß zu atmen, während sie mühelos durch die Luft wirbelte.

Löwe und Tiger sahen ihr zu, während sie geduldig auf den eigenen Auftritt warteten.
„Ach, ich weiß gar nicht, was es da so aufgeregt zu klatschen gibt“, sagte der Tiger und rollte mit den Augen. „Bemerken die Menschen nicht, wie langweilig es ist, immer nur im Kreis zu galoppieren? Jede Bewegung ist routiniert, der Anmut erstarrt und das Lächeln gefroren.“
Er seufzte tief. „Wäre es nicht viel schöner auf samtweichen Pfoten durch den grünen Dschungel zu streifen, den Duft der bunten Blüten in der Nase, Schmetterlinge so groß wie Untertassen flattern vorüber und…“ Er schluckte, überwältigt von der Erinnerung an seine Heimat, stiegen die Tränen in ihm auf.

„Na, na, na“, beschwichtigte der Löwe, der über den Dingen stand und stets gelassen auf die Welt blickte. „Die Menschen sind nun einmal merkwürdig.“ Sprach’s und hüpfte würdevoll durch einen brennenden Reifen. Der Tiger hatte sich wieder gefasst. „Heute Nacht werde ich die Gitterstäbe mit meinen starken Zähnen aufnagen“, verkündete er.

Das Pferd hatte im Vorbeigaloppieren die Unterhaltung mit angehört. Es wusste, dass Tigerzähne nicht dazu imstande waren, Eisenstangen zu durchbrechen. Doch es gab keinen Grund, den rebellischen Geist mit der Wahrheit zu kränken, also hielt es den Mund. Selber träumte es schon lange von einem Leben fernab von grellem Scheinwerferlicht und lautem Applaus.
„Stell dir vor“, sagte es zur Artistin, als sie wie so oft nach der Vorstellung im Stall beisammen saßen, „es gäbe einen Ort, an dem du weiter als bis zum Horizont sehen kannst.“
Nachdenklich kaute es auf seinem Heu. „Ein Ort, an dem du nach Herzenslust galoppieren kannst, und der Wind dir dabei lustig durch die Mähne fährt.“

„Bist du denn nicht glücklich hier?“, fragte die Artistin erstaunt, denn sie hatte das Pferd noch nie klagen gehört. „Weißt du“, sagte das Pferd, „mein Stall ist warm und gemütlich, der Beifall und die Freude, die wir bereiten, das gefällt mir gut. Aber vom ständigen im Kreis laufen wird man ganz dusselig in der Birne.“ Es zögerte kurz. „Hin und wieder schmerzt mir der Rücken, du wirst nicht gerade leichter mit der Zeit. Und wenn ich mich mal vergaloppiere“ – was häufiger vorkam – „gibt es Ärger. Pferde sind freiheitsliebende Tiere, und am allerliebsten laufen wir einfach los, so wie uns gerade der Sinn steht.“

Währenddessen waren die Schwalben hereingeflogen, um ihre Kücken zu versorgen, die in den Nestern zwischen den Stangen und Balken des Pferdestalls saßen. Sofort krakeelten die lieben Kleinen los und veranstalteten einen riesigen Krach, denn sie waren hungrig, und jeder wollte als erstes an der Reihe sein. Sie hatten den ganzen Tag auf ihre Eltern gewartet, die jeden Morgen weit flogen, um über die Berggipfel zu den Wiesen und Feldern zu gelangen, wo es das beste Futter für ihren Nachwuchs gab.

„Wir kennen so einen Ort“, sagten sie zum Pferd und der Artistin, die gespannt zuhörten.
„Dort wird das Gras zu Sand und der Sand zu Wellen. Du kannst endlos über schimmerndes Wasser sehen, auf dem Boote mit großen weißen Segeln fahren, und du kannst rennen, bis dir die Puste ausgeht und keine Zeltwand hält dich auf. Die Menschen nennen es das Meer. Aber es ist sehr weit weg. Es liegt hinter den Bergen, und wenn du sie überwunden hast, musst du noch viel weiter fliegen. Über Wiesen und Felder, vorbei an Dörfern und Städten, Wäldern und Seen, bis die Luft beginnt, nach Salz zu riechen und du die ersten Wellen, die so schön in der Sonne glitzern, sehen kannst.“

„Oh“, sagte die Artistin enttäuscht. „Dann werden wir niemals am Meer sein können. Die Berge sind hoch und steil. Auch wenn mein Pferd mutig ist und seine Schritte sicher, wir haben keine Flügel so wie ihr und ohne die werden wir den Weg nicht bewältigen können.“

In den nächsten Tagen wurde sie sehr still, denn die Sehnsucht nach dem Meer hatte sich schwer um sie gelegt, und so sehr sie sich auch bemühte, sie vermochte den Kummer nicht mehr zu verjagen.

„Mach dir nichts draus“, sagte der traurige Clown und klopfte ihr auf die Schulter. Er konnte es nur schwer ertragen, wenn jemand Sorgen hatte. „Es ist bestimmt nicht halb so schön, wie du es dir vorstellst.“

„Hör bloß nicht auf ihn“, mischte sich die Tänzerin ein. Sie nahm die Artistin bei den Händen und drehte sich mit ihr schwungvoll und anmutig herum, bis beiden ein wenig schwindelig wurde. „Für eine gute Aussicht muss man manchmal hoch hinaus und auch was riskieren!“, rief sie.
Sie war nämlich eine Seiltänzerin und ein wenig verrückt, musst du wissen, denn sie tanzte jeden Abend auf einer schmalen Linie zwischen Himmel und Erde.

Aber die Ratschläge ihrer Freunde konnten an der getrübten Stimmung der Artistin nichts ändern. Wochen und Monate vergingen und um Trost und Ablenkung zu finden, unternahmen das Pferd und sie lange Ausritte unter dem Sternenhimmel, welche ihnen bald zur liebgewonnenen Gewohnheit wurden.

Wenn alle Lichterketten und Laternen erloschen waren und es ruhig wurde zwischen den Wohnwagen und Zelten, verließen sie die vertraute Umgebung und tauchten ein in die Art von Geborgenheit, welche nur die Nacht zu geben vermag. Dabei erzählten sie sich Geschichten vom Meer, die sie von den Schwalben gehört hatten. Sie malten sich aus, wie sie am Strand durch die Wellen galoppierten und das Wasser an ihnen hochspritzte, dass sie vor Vergnügen nur so quietschten. Vielleicht konnten sie in dem großen roten Leuchtturm wohnen, der dort stand, und nie wieder würden sie im Kreis laufen und lächeln müssen, außer es war ihnen danach zumute.

Sie ritten dabei langsam und ruhig durch den Wald und seine verschlungenen Pfade, immer in Richtung der Berge, die hier begannen. Sie mussten Acht geben, um nicht über Wurzeln und Äste zu stolpern, aber der Mondschein reichte stets aus, um sich zurechtzufinden. Die Schritte des Pferdes waren sicher und federnd auf dem weichen Waldboden, der mit Tannennadeln und Moos bedeckt war. Links und rechts vom Weg gab es große, hellgrüne Farne, darüber schwebten die Glühwürmchen wie leuchtende Punkte und hohe blaue Blumen wuchsen hier, die den Nachtfaltern als Treffpunkt dienten.

Manchmal hingen die Äste so tief, dass die Artistin sich herunterbeugen musste, um nicht von ihnen getroffen zu werden. Dabei legte sie sich ganz flach auf den schwungvollen Hals des treuen Gefährten, sog tief den wohlig vertrauten Geruch ein und spürte das warme, samtige Fell an ihrer Wange. In diesen Momenten wurde es in ihr ganz weich, und sie konnte den kalten Mantel aus unerfüllter Sehnsucht abstreifen und den Weg zurück zum Zirkuszelt einschlagen.
Doch die Unruhe blieb nie lange fern und griff bald wieder mit fester Hand nach ihrem Herzen.

Bei einem dieser nächtlichen Streifzüge war es besonders finster, denn der Mond war hinter dichten Wolken verschwunden und mochte sich nicht blicken lassen. Es war kalt geworden, der Sommer neigte sich dem Ende zu. Man sah den Atem des Pferdes von seinen Nüstern in kleinen Wölkchen zum Himmel steigen und hörte nichts weiter als sein Schnauben. Nur manchmal hallte der Ruf des Käuzchens durch den Wald oder es raschelte im Farn, wenn ein kleines Rotkehlchen oder eine Maus oder ein Fuchs davonliefen, überrascht von den späten und ungewöhnlichen Besuchern.

Die Artistin wollte gerade zur baldigen Umkehr drängen, da sich zu Kälte und Dunkelheit erste Regentropfen gesellten, die das aufziehende Unwetter ankündigten. Bevor sie etwas sagen konnte, verlor sie das Gleichgewicht und hatte Mühe, nicht vornüber zu kippen, denn ihr Pferd hatte ganz unvermittelt angehalten und den Kopf gehoben. „Sieh nur“, sagte es und schaute angestrengt durch die Bäume nach oben.

Die Artistin folgte dem Blick des klugen Tieres und sah, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Die Baumkronen gaben den Blick frei auf die Berge, und auf halber Höhe, wo die Bäume weniger werden und der Wald beginnt, Platz für den rauen Fels zu machen, da flackerte ein winziges helles Licht, wie von einem Feuerschein. Oje, dachte die Artistin erschrocken, es muss das Lagerfeuer eines verirrten Wanderers sein. Er ist vom Weg abgekommen und braucht sicherlich Hilfe. Kalt wie es ist, könnte er heute Nacht leicht erfrieren.

Besorgt blickte sie zum Himmel, wo sich die dunklen Wolken immer dichter zusammenzogen.
Es würde nicht leicht werden, ihn zu finden. Regen und Wind könnten das Lagerfeuer löschen, und dann gäbe es kein Licht mehr, um ihnen den Weg zu leiten. Doch sie konnten den Pechvogel nicht seinem Schicksal überlassen und so ritten sie eilig los. Noch tiefer in den dunklen Wald, noch weiter in die Nacht hinein und immer höher und höher in die steilen Berge...